LOEWE-Forschungsschwerpunkt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ (2017-2022, abgeschlossen)
2017 bis 2021 leitete Prof. Dr. Christian Wiese federführend als akademischer Sprecher den vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären LOEWE-Forschungsschwerpunkt „Religiöse Positionierung: Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten“ an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig Universität Gießen.
Im Zentrum des wissenschaftlichen Programms des Projekts stand die Frage nach den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen des konstruktiven, respektvollen Umgangs mit religiöser Pluralität und Differenz. Ziel war die interdisziplinäre Erarbeitung theoretischer und methodischer Diskussionsansätze mit Blick auf ein Modell der Pluralismusfähigkeit religiöser Traditionen, das – als Alternative zu vorrangig konsensorientierten Dialogmodellen – von der Legitimität und Produktivität von Diversität, Differenz und Konflikt in den wechselseitigen Positionierungen von Judentum, Christentum und Islam in Geschichte und Gegenwart ausgeht. Eine wesentliche Aufgabe bestand in der Analyse der Bedingungen und Potenziale einer kommunikativen Praxis (im Binnendiskurs wie im Diskurs nach außen), die religiöse Traditionen dazu befähigt, den eigenen Standpunkt zu affirmieren, ohne die Vielfalt anderer Positionen aufzuheben oder durch Zwang auszuschließen. Damit zielte der Verbund auf einen profilierten wissenschaftlichen Beitrag zu gegenwärtigen akademischen und gesellschaftlichen Debatten über die Herausforderungen, die von religiösen Konflikten, Fundamentalismen oder religiös begründeter Gewalt ausgehen, und auf eine Analyse der Modalitäten und Konstellationen, die einen konstruktiven interreligiösen Dialog befördern oder hemmen.
Forschungsergebnisse des Projekts erscheinen u.a. in der von Christian Wiese und Nina Fischer edierten Schriftenreihe „Religiöse Positionierungen in Judentum, Christentum und Islam“.
Das Teilprojekt der Martin-Buber-Professur widmete sich dem Thema „Religiöse Positionierungen als Thema von Pluralismusdebatten in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne“. Auf der Grundlage religionsphilosophischer und theologischer Entwürfe des 19./20. Jahrhunderts zielte das Teilprojekt der Jüdischen Religionsphilosophie schwerpunktmäßig (1) auf eine ideengeschichtliche Untersuchung jüdischer Modelle und Strategien der Positionierung gegenüber dem Christentum in der Moderne und (2) auf eine Untersuchung des spannungsreichen Binnenverhältnisses unterschiedlicher Strömungen des Judentums im gleichen Zeitraum. Die Prämisse lautete, dass die Thematik religiöser Vielfalt und Differenz für das Selbstverständnis der „Judentümer“ in der Moderne von zentraler Bedeutung und zugleich höchst aktuell sei, da sich die Frage nach den Ressourcen der jüdischen Tradition mit Blick auf deren Pluralismusfähigkeit in besonderer Weise eigne, um exemplarisch die übergreifenden historisch-politischen und religionsphilosophischen Bezüge der Frage nach Modalitäten religiöser Positionierungen in pluralen Kontexten zu diskutieren. Im Rahmen der fünfjährigen Forschungen haben sich unterschiedlich akzentuierte interdisziplinäre Zugänge herausgebildet, die in Dissertationen und Postdoc-Projekten durchgeführt wurden.
Die religionsphilosophisch oder theologisch orientierten Projekte thematisierten jüdische Konzepte mit Blick auf religiöse Pluralität und Differenz (Ulrike Chanana; Roi Benbassat) sowie die Positionierung einzelner jüdischer Intellektueller gegenüber ihrer nichtjüdischen Umwelt unter den Herrschaftskonstellationen ihrer Zeit (Elias. S. Jungheim; Francesca Paolin; Philipp Mertens; Valerie Jandeisek).
Mehrere Projekte im Feld philosophischen Denkens nahmen religionstheoretisch fundierte politische Positionierungen im Kontext moderner jüdischer Geistesgeschichte und Sozialphilosophie in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen nicht-jüdischen Philosophie in den Blick (Christoph Kasten; Ansgar Martins; Ghilad Shenhav).
Weitere Projekte widmeten sich literarischen und politischen Aspekten biographischer Erfahrungen und Selbstäußerungen in den Positionierungsprozessen jüdischer Intellektueller in zeitgeschichtlichen Konstellationen des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Kontext des Antisemitismus und der nationalsozialistischen Verfolgung (Grażyna Jurewicz; Andrea Kirchner; Heike Breitenbach).
Die stärker historisch-zeitgeschichtlich orientierten Projekte befassten sich mit Positionierungen der jüdischen Minderheit im Zuge von Bestrebungen zur Integration in europäische Diasporagesellschaften und -kulturen oder im Zusammenhang jüdisch- nationaler Bestrebungen (Stefan Vogt; Tilman Gempp-Friedrich).
Der Zeit nach 1945 waren politisch-kulturwissenschaftliche Projekte gewidmet, die sich mit Positionierungsprozessen nach der Shoah in Konfrontation mit der deutschen Nachkriegsgesellschaft (Stefanie Fischer) auseinandersetzten, oder literaturwissenschaftliche Forschungsprojekte zur Frage der Pluralität unter dem Aspekt der Themenfelder jüdische Diaspora, Migration und Exil (Yael Almog) bzw. zu politischen Debatten über das Verhältnis des neugegründeten Staates Israel zu seinen arabischen Bürger*innen und zur palästinensischen Nation (Nina Fischer).