Postcolonial Studies, Nationalsozialismus und Holocaust
In den vergangenen Jahren wurde in verschiedenen Zusammenhängen intensiv darüber diskutiert, ob und in welcher Weise der Nationalsozialismus und insbesondere der Holocaust kontextualisiert werden kann, soll oder darf. So wurde eine heftige Kontroverse darüber geführt, ob es Kontinuitäten gibt, die vom Kolonialismus, insbesondere von der deutschen Kolonialherrschaft, ihren rassistischen Grundlagen und ihren Verbrechen zum Mord an den europäischen Juden führen.[1] Eine weitere Debatte dreht sich um die Frage, wie in einer postkolonialen Welt, die von tiefgreifenden Migrationsprozessen und fortdauernden kolonialen Ungleichheiten geprägt ist, die Zukunft der Erinnerung an den Holocaust aussehen kann.[2] In einem dritten Komplex geht es um die anhaltende Virulenz und die wieder zunehmende Präsenz des Antisemitismus, seine Rolle in außereuropäischen und postkolonialen Kontexten und sein Verhältnis zum (gerade auch antiislamischen) Rassismus.[3] Das Forschungsprojekt knüpft an diese Diskussionen an, will sie jedoch um eine wissenschaftsgeschichtliche und diskurshistorische Ebene ergänzen. Es untersucht die Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust innerhalb der Postcolonial Studies und will so dazu beitragen, eine theoretisch fundierte und reflektierte, sich auch ihrer eigenen Grenzen bewusste Kontextualisierung voranzutreiben.
Eine systematische Analyse des Nationalsozialismus oder des Holocaust aus postkolonialer Perspektive gibt es bislang nicht. Dennoch spielen vor allem der Holocaust und die Erinnerung an ihn eine nicht zu unterschätzende Rolle innerhalb postkolonialer Debatten. In einigen Fällen stellen sie einen impliziten oder auch expliziten Referenzpunkt für die Interpretation kolonialer Ausgrenzungs- Unterdrückungs- und Vernichtungsprozesse dar. Dies gilt noch mehr für die jüdische Geschichte insgesamt, die bereits im Selbstverständnis kolonialer und postkolonialer Befreiungsbewegungen prominent auftauchte.[4] Auf der anderen Seite bilden der Holocaust und die Erinnerung an ihn häufig negative Referenzpunkte in den Debatten der Postcolonial Studies, da diese die Sicht auf die Verbrechen des Kolonialismus und die anhaltende koloniale Unterdrückung zu verstellen drohten. Vor allem, so der Vorwurf, werde dadurch eine Kritik an der angeblich neokolonialen Rolle Israels verhindert. Die relativ unkritische Parteinahme vieler postkolonialer Autorinnen und Autoren im israelisch-palästinensischen Konflikt ist einer der Gründe dafür, dass es von Seiten der Postcolonial Studies bislang kaum eine systematische und historisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust gibt.
Das Forschungsprojekt geht davon aus, das diese relative Ignoranz weder notwendig noch hilfreich ist. Sein Ziel ist es, die in den Arbeiten der Postcolonial Studies zumeist verstreut und unsystematisch auftauchenden Aussagen über den Nationalsozialismus und den Holocaust sowie seine Erinnerung daran zu sammeln, zu systematisieren und zu analysieren. Dabei fragt es einerseits nach den methodischen und politischen Voraussetzungen, andererseits nach den historischen und theoretischen Ergebnissen der Konfrontation des Holocaust und der Erinnerung an ihn mit einer postkolonialen Perspektive. Besonderes Augenmerk wird dabei auf der Frage liegen, ob und in welcher Weise die theoretischen und politischen Prämissen die Fragestellungen und die Ergebnisse präformieren. Das Projekt untersucht dafür eine breite Palette von historischen, literaturwissenschaftlichen sowie kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen aus dem Bereich der Postcolonial Studies, außerdem politische Beiträge und Positionen von Vertreterinnen und Vertretern dieses Feldes. Es zielt darauf, einerseits die Potenziale einer postkolonialen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie mit der Erinnerung an diesen herauszuarbeiten, andererseits die Hindernisse zu identifizieren, die einer solchen Auseinandersetzung im Weg stehen. Das Projekt will so auch zu einer stärkeren Vernetzung und Kommunikation zwischen den Disziplinen der Postcolonial Studies und der Holocaust- und Nationalsozialismusforschung beitragen.
Das Projekt kann dafür auf einige wenige, nichtsdestotrotz aber sehr hilfreiche Arbeiten zurückgreifen. Bryan Cheyette etwa hat in „Diasporas of the Mind“ die Auseinandersetzung einiger postkolonialer Autoren wie Franz Fanon, Albert Memmi oder Salman Rushdie mit dem Holocaust eingehend untersucht.[5] Michael Rothberg hat sich in seiner Studie „Multidirectional Memory“ mit der Frage beschäftig, wie aus kolonialer und postkolonialer Perspektive auf die Erinnerung an den Holocaust geblickt wurde und geblickt werden könnte.[6] Darüber hinaus gibt es einige Arbeiten, die sich mit der Bedeutung des Holocaust und der Erinnerung an ihn in außereuropäischen Kontexten sowie in den postkolonialen und damit multiethnischen und multikulturellen europäischen Gesellschaften befassen.[7] Eine systematische Analyse, die sich mit den wissenschaftlichen Diskursen der Postkolonial Studies beschäftigt, gibt es bislang jedoch nicht. Diese Lücke will das Projekt schließen.
In der Forschung zur jüdischen Geschichte hat in den letzten Jahren eine zwar zaghafte, jedoch durchaus merkliche Öffnung gegenüber den Postcolonial Studies stattgefunden. In diesem Kontext ist auch meine eigene Forschung angesiedelt. Ich habe in meiner Habilitationsschrift die Stellung des deutschen Zionismus zum deutschen Nationalismus unter Verwendung von Konzepten der Postcolonial Studies analysiert.[8] Gegenwärtig untersuche ich die Anwendbarkeit solcher Konzepte auf die Geschichte des Zionismus in einer umfassenden Perspektive. Das Projekt schließt direkt an diese Forschungen an und führt sie im Feld der Wirkungs- und Wissenschaftsgeschichte des Holocaust fort.
Unmittelbares Ziel des Projekts ist die Erarbeitung einer Monographie. Darüber hinaus aber bietet das Projekt die Möglichkeit, durch die Organisation von Tagungen und die Herausgabe eines Sammelbandes mit dem Gegenstand seiner Forschung direkt ins Gespräch zu kommen. Auf diesem Wege könnte das wissenschaftsstrategische Anliegen des Projekts, Holocaustforschung und Postkolonial Studies miteinander ins Gespräch zu bringen, besonders effektiv verfolgt werden.
[1] Für eine gute Zusammenfassung dieser Kontroverse vgl. Sybille Steinbacher, Sonderweg, Kolonialismus, Genozide. Der Holocaust im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte, in: Frank Bajohr (Hg.), Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. 2015, S. 83-101.
[2] Vgl. z. B. Jacob S. Eder/Philipp Gassert/Alan E. Steinweis (Hg.), Holocaust Memory in a Globalizing World, Göttingen 2017.
[3] Vgl. dazu z. B. Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt a. M. 2004.
[4] Besonders explizit wird dies von Paul Gilroy und Aamir Mufti unternommen. Vgl. Paul Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge 1993; Aamir Mufti, Enlightenment in the Colonies. The Jewish Question and the Crisis of Postcolonial Culture, Princeton 2007. Zur Bezugnahme antikolonialer Bewegungen auf die jüdische Geschichte vgl. z. B. George Bornstein, The Colors of Zion. Blacks, Jews and the Irish from 1845 to 1945, Cambridge 2011.
[5] Bryan Cheyette, Diasporas of the Mind. Jewish and Postcolonial Writing and the Nightmare of History, New Haven 2014.
[6] Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Globalization, Stanford 2009.
[7] Vgl. z. B. Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945-1967, Göttingen 2012; Bernd Fechler u. a. (Hg.), Neue Judenfeindschaft. Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt a. M. 2006.
[8] Stefan Vogt, Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland, 1890-1933, Göttingen 2016.