Hebräische Entdeckung: Lesekultur deutschsprachiger Juden*Jüdinnen in den 1920er und 1930er Jahren
Die Rezeption hebräischer Literatur unter deutschsprachigen Juden*Jüdinnen in den 1920er und 1930er Jahren ist geprägt vom Bruch im Jahr 1933 und der sich anschließenden Verdrängung deutscher Juden*Jüdinnen aus Verlagen, Presse sowie Räumen des Kultur- und Literaturkonsums. Der abrupte Ausschluss deutschsprachiger-jüdischer Schriftsteller*innen aus dem Publikationswesen sowie die öffentliche Verbrennung ihrer Werke hinterließ auch bei der jüdischen Leserschaft ein Verlangen nach Neuorientierung. Der Konsum der viel geschätzten deutschen Literatur wurde zumindest teilweise in Frage gestellt und die Möglichkeit, ohne sich Schmähungen auszusetzen Rezensionen etc. in der nicht-jüdischen Presse au konsultieren, war kaum noch möglich. So fand eine Hinwendung zur jüdischen Presse einerseits sowie zu jüdischen Schreibenden andererseits statt. Hierzu gehört auch das wachsende Interesse an hebräischer Literatur.
An dieser Stelle sei bemerkt, dass hebräische Literatur im deutschsprachigen Raum durchaus schon früher präsent war: In den 1910er Jahren war Wien, in den 1920er Jahren Berlin wichtiges Zentrum für hebräische Schriftsteller*innen, nachdem sich die moderne hebräische Literatur im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte und sich ihre Zentren von Odessa über Warschau und Lemberg kontinuierlich nach Westen verlagerten. Indem sowohl die 1920er als auch die 1930er Jahre zum Untersuchungszeitraum gehören, ermöglicht das Projekt die Gegenüberstellung dieser beiden Entwicklungen, hinterfragt aber auch die anfänglich gezogene scharfe Trennung zwischen der Produktion hebräischer Literatur im deutschsprachigen Raum in den 1920er Jahren und dem Konsum durch vor allem Juden*Jüdinnen in Deutschland und später Österreich in den 1930er Jahren.
In einem ersten Schritt werden folglich mögliche Berührungspunkte zwischen Hebräisch Schreibenden und deutschsprachigen Juden*Jüdinnen in den 1920er Jahren herausgearbeitet. Diese Berührungspunkte beziehen sich auf Begegnungen zum Beispiel in Cafés, auf die Besprechung hebräischer Publikationen in der jüdischen Presse, aber auch auf die Sprachdiskussionen unter deutschsprachig-jüdischen Intellektuellen vor allem unter dem Einfluss der Etablierung des Hebräischen als Alltagssprache im Yishuv. In einem Exkurs werden außerdem die Aufenthalte von Shmuel Yosef Agnon und Hai5m Nahman Bialik in Bad Homburg beleuchtet. Im zweiten Schritt liegt der Fokus auf Publikationen hebräischer Literatur und auch auf deren Übersetzung. Dieser Projektteil dient auch der Verdeutlichung, dass es zwar einen starken Umbruch ab 1933 gab, der vor allem aufgrund von Zwangsmaßnahmen von Seiten des NS-Regimes herbeigeführt wurde, dass aber vereinzelt bereits zuvor eine Lesekultur hebräischer Texte unter deutschsprachigen Juden*Jüdinnen bestand.
Im darauffolgenden Schritt geht es schließlich um die Zeit ab 1933. Zuerst soll wiederum die Analyse der jüdischen Presse verdeutlichen, welche Veränderungen sich tatsächlich nachweisen lassen, sei es die Menge, Länge und Tiefe von zum Beispiel Rezensionstexten moderner hebräischer Literatur. Viertens werden die Texte von Hebräisch Schreibenden betrachtet, die 1933 tatsächlich noch in Deutschland lebten und arbeiteten, um die Begegnung und das neu erfragen des Jüdischen vor dem Hintergrund der Verfolgung auch hier nachvollziehbar zu machen. Der fünfte Schritt zielt darauf ab, das Eindringen des Hebräischen jenseits von in deutschsprachiger Übersetzung vorliegender Literatur im kulturellen Raum deutschsprachiger Juden*Jüdinnen zu verorten; der Spracherwerb wird plötzlich zu einem beherrschenden Thema. Abschließend wird, sechstens, vergleichend die schweizerische jüdische Presse genauer betrachtet, um nachvollziehbar zu machen, welche Prozesse, die in der Lesekultur von deutschsprachigen Juden*Jüdinnen bisher festgestellt wurden auch außerhalb des zunehmend vom NS kontrollierten Raum zu finden oder nicht zu finden sind.
Somit ist das Projekt in der Thematik des deutsch-hebräischen Dialogs zu verorten und stellt eine Ausweitung von bisherigen Studien zur hebräischen Literatur in Berlin dar, indem es deren Rezeption analysiert und diese mit der Geistes- und Kulturgeschichte des deutschen Judentums verbindet.