Der Kolonialismus und die Juden in Deutschland, 1880-1918
Dieses Projekt untersucht erstmals systematisch das Verhältnis von Kolonialismus und Judentum im deutschen Kaiserreich. Dabei wird sowohl die Bedeutung analysiert, die Juden als Objekte kolonialer Ideologie und Praxis zukam, als auch ihre Rolle als Akteure in kolonialen Kontexten. Das Projekt geht von zwei forschungsleitenden Hypothesen aus. Zum einen wird angenommen, dass sich die Situation der Juden in Deutschland, insbesondere der gegen sie gerichtete Antisemitismus, und die kolonialen Erfahrungen, Vorstellungen und Praxen gegenseitig wesentlich beeinflusst haben. Zum anderen wird vermutet, dass in diesem Schnittfeld von Kolonialismus, jüdischer Erfahrung und Antisemitismus entscheidende Weichenstellungen für die Konstruktion nationaler Identität erfolgten. Das Projekt prüft diese Hypothesen für die Phase der aktiven deutschen Kolonialpolitik zwischen 1880 und 1918 und rekonstruiert die konkreten Formen und Auswirkungen der Beziehungen zwischen dem Kolonialismus und den Juden. Es schließt damit nicht nur empfindliche Lücken in der Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte und zur Geschichte des deutschen Kolonialismus. Es stellt auch erstmals eine Verbindung zwischen diesen beiden Forschungsfeldern her und kann dadurch zu einer signifikanten Erweiterung beider Felder beitragen.
Das Projekt analysiert zu diesem Zweck die wichtigsten Segmente der Kolonialpolitik und des Kolonialdiskurses im Kaiserreich: die staatliche Kolonialpolitik, die Kolonialbewegung, die antisemitischen und radikalnationalistischen Bewegungen, die spezifisch jüdischen Diskurse zum Kolonialismus, den Nationalliberalismus, die kirchliche Kolonialmission, sowie die für den Kolonialismus direkt relevanten Wissenschaften. Im Zentrum stehen zwei Fragekomplexe. Zum einen soll gefragt werden, ob und in welcher Weise die koloniale Ideologie und Praxis die Situation der Juden im Kaiserreich beeinflusst hat. Dies zielt sowohl auf den Einfluss des Kolonialismus auf Haltungen gegenüber Juden innerhalb der deutschen Gesellschaft wie auch auf dessen Einfluss auf das Denken und Handeln der Juden selbst. Zum anderen fragt das Projekt nach den Rückwirkungen der Situation der Juden in Deutschland auf die Ideologie und die Praxis des deutschen Kolonialismus. Hier geht es einerseits um potenzielle Auswirkungen der Vorstellungen von und Verhaltensweisen gegenüber Juden auf den Kolonialismus, andererseits um Konsequenzen, die Juden möglicherweise aus ihren Erfahrungen in Deutschland für ihre Haltung zum Kolonialismus gezogen haben. Das Projekt konzentriert sich dabei auf das Verhältnis von Antisemitismus und kolonialem Rassismus sowie auf diejenigen Auseinandersetzungen, die sich um die Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv drehen.
Das Projekt bezieht sowohl den überseeischen Kolonialismus als auch die auf den Orient und den europäischen Osten gerichteten kolonialen Bestrebungen in das Bild ein. Es unternimmt in diesen Bereichen eine kulturgeschichtliche Analyse politischer Ideen und verwendet Konzepte der postcolonial studies, um das Verhältnis rassistischer und antisemitischer Zuschreibungen sowie die Position von Juden innerhalb des kolonialen Feldes zu bestimmen. Das Projekt interveniert damit in drei aktuelle Forschungskontroversen: die Debatte um den Zusammenhang von Kolonialismus und Holocaust, die Auseinandersetzung um das Verhältnis und die Vergleichbarkeit von Antisemitismus und Rassismus und die Diskussion um die Anwendbarkeit postkolonialer Konzepte in der jüdischen Geschichte. Indem es diese Fragen an einer konkreten historischen Konstellation und auf einer breiten Quellengrundlage untersucht, trägt das Projekt nicht nur dazu bei, diese Kontroversen empirisch zu grundieren. Es verspricht auch, historisch fundierte Antworten zu liefern auf die darin diskutierte Frage nach den Besonderheiten der deutschen und der deutsch-jüdischen Geschichte und nach ihrem Ort innerhalb einer globalen Moderne.